Ein außergewöhnliches Projekt, das zwar unseren keltischen Bereich nur indirekt berührt, aber für jeden Folk-Rock – Fan von Interesse sein sollte. Zum 40-jährigen Gründungsjubiläum von Ougenweide haben sich18 Formationen zusammengetan, um auf einer CD und einer EP Titel der legendären Minnerocker neu zu interpretieren. So ergibt sich ein Überblick über die aktuelle Mittelalterszene, ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Die Beiträge kommen aus dem gesamten Genrebereich, von den Rockern In Extremo bis zu Ensembles des feinen akustischen Minnegesangs. Die Anregung stammte von Kulturmanager und Musikjournalist Dr. Lothar Jahn.
Minne, Rock und Zaubersprüche
„Wo sind eigentlich meine Räucherstäbchen abgeblieben?“, fuhr es mir beim Betrachten des Covers durch den Kopf. Sechs langhaarige junge Menschen sitzen, ganz Siebziger Jahre, um ein niedriges Tischchen und trinken Tee bei Kerzenbeleuchtung. Alternativ neben der Kleidung war auch das vielfältige Instrumentarium. Akustische Klänge verschiedener Herkunft wurden wie bei den Zeitgenossen Fairport Convention oder Steeleye Span mit dem aktuellen Rocksound kombiniert. Zunächst vertonte man die alten Texte, wobei einige Ohrwürmer wie Totos Floreo entstanden. Mit der Zeit erweiterte sich das Spektrum der Band. Daher ist es folgerichtig, wenn auf dem Tributalbum elektronische Sounds und Effekte hinzu kommen.
Immer, wenn zwei komplett gegensätzliche Genres zusammenstoßen, gibt es kreative Spannung. Die deutlichen Kontraste sorgen für ein vielfältiges Hör-Erlebnis nicht nur für Fans oder Kenner. Musikalischer und tontechnischer Standard sind hoch. Auch wenn die Musiker/-innen sich intensiv mit der Herkunft und den musikalischen Gepflogenheiten früherer Jahrhunderte aueinandergesetzt haben, gibt es keine „verbindliche“ Stilistik. Das lässt sich am besten am Gesang festmachen. Chansonhaft-folkig, opernartig, klassisch oder in düsteren Tiefen dräuend – alles ist möglich. Im Vergleich zur Keltenszene fällt auf, wie viele tolle Frauenstimmen zu hören sind. Vielfältig sind auch die gesungenen Sprachen: hoch-, alt- und mittelhochdeutsch, dazu Latein oder altnordisch. Die Text -Autoren stammen aber nicht nur aus dem Mittelalter. Neben Walther von der Vogelweide oder Hans Sachs sind der Barockdichter Ch. F. Gellert oder unser aller J.W.v. Goethe versammelt.
Staunenswert ist das gesammelte Instrumentarium, für dessen Vielfalt auch Ougenweide selbst berühmt waren. Neben den konventionellen Rock -Zutaten gibt es beinahe für jede Klangfarbe und jeden Effekt ein eigenes akustisches Instrument; sanfte Harfenklänge, harte Rockriffs und manchmal den spröden Charme der Weltmusik-Einsprengsel. Drehleier, Krummhorn, Schalmei: erwartbar. Hackbrett, Nyckelharpa, Monochord, Marimbaphon – OK. Aber Udu, Duduk, Davul und Ney – ??? Mir hat es Spaß gemacht, mit Hilfe des sorgfältig gestalteten Booklets den vielen Arrangements -Ideen nachzuspüren.
Niemand wird alle Tracks mit dem gleichen Wohlgefallen hören, dafür sind die Ansätze zu verschieden. Die fünf Frauen von den Irrlichtern verbreiten akustisches Wohlgefühl, Van Langen fetzen dagegen kräftig los. Am cleversten vielleicht Tribut de Cantar von Poeta Magica, wo diverse Bordun-Instrumente aufs Feinste von Drumsounds des A.Tari :-) unterstützt werden. Auch der Humor, etwa bei Im Badehaus, kommt nicht zu kurz. Die einzelnen Titel scheinen etwas auseinander zu streben, zusammengehalten werden sie vom gemeinsamen Tribut-Gedanken.
Merseburger Zaubersprüche
Umgekehrt ist es bei der EP. Die Arbeit an der Tribut-CD setzte so viel Kreativität frei, dass sich spontan dieses Nebenprojekt ergab. Da brodelt förmlich der Zauberkessel, dem die magischen Beschwörungen gelten. Eine ganze Reihe der beteiligten Musiker/-innen spielen hier gemeinsam. Die althochdeutschen Verse, die auf dem Haupt -Album zweimal anklingen, werden hier in einer 22-minütigen Langfassung ausgeführt. Sie verbindet die Vertonungen von Ougenweide, Duivelspack und In Extremo. In einem geschickt gebauten Spannungsbogen gehen vielfältige Stimmungen ineinander über. Man spürt ein wirkliches Miteinander der Beteiligten. Live wurde das Werk im vergangenen Jahr auf der Burg Falkenstein präsentiert.
Weitere Infos sind auf www.minnesang.com zu finden.
Minne, Rock und Zaubersprüche
- Fundevogel: Merseburger Zaubersprüche/Ougenweide
- Spielleut Irregang: Im Badehaus
- Die Irrlichter: Wan si dahs
- Holger Schäfer: Der Blinde und der Lahme
- Minnesangs Frühling: Totus Floreo
- Van Langen: Der Rivale
- Skandor: Der Fuchs und der Rabe
- Duivelspack: Der Rattenfänger
- Triskilian: Wol mich der stunde
- Galahad: Bald anders
- Vrouwenheide: Pferdesegen
- Musiktheater Dingo: Gerhard Atze
- Kleine Sekunde: Terra Sinus Aperit
- Arundo: Sol
- Oni Wytars: Nieman kan mit gerten
- Gesine Bänfer und Ian Harrison: Ouwe
- In Extremo (mit diversen anderen Interpreten): Merseburger Zaubersprüche
- Poeta Magica: Tribut de cantar (Tribut an Ougenweide)
Merseburger
I Zaubersprüche
II Lichtgesang
III Flammenrede
IV Flüsterklage
V Spurensuche
VI Lösungszauber
VII Tanz und Spieluhr
von und mit In Extremo, Triskillian, Oni Wytars, Hans Hegner, Gesine Bänfer, Van Langen, Ursel Peters, Skandor, Galahad, Duivelspack, Irrlichter, Poeta Magica, Holger Schäfer und Musiktheater Dingo
Die beiden CDs machen Lust, sich einmal mit den Originalvorlagen zu beschäftigen. Die Ur-Ougenweide löste sich zwar 1985 auf, ist aber seit den Neunzigern in anderer Besetzung wieder zusammen und brachte 2010 das Album Herzsprung heraus.