Vielleicht muss man 17 sein, um zu glauben, man könne ein Original von Bob Dylan verbessern. Der US-Teenager Ketch Secor hatte jedenfalls das nötige Selbstbewusstsein und auch die texterischen Fähigkeiten. Vielleicht gefiel ihm auch einfach der doppeldeutige Refrain und er schrieb die neuen Strophen, um mit seinen Kumpels diesen Gute-Laune-Song spielen zu können. Niemand hat sich hingesetzt, um zielgerichtet einen Chart-Hit zu schreiben. Trotzdem kam ein solcher dabei heraus – mit vielen Jahren Verzögerung. Aber der Reihe nach.
Bob Dylans Fragment
In den frühen Siebzigern war Bob Dylans Karriere an einem Tiefpunkt. Er hatte sich aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Da kam ein Angebot, er solle in Sam Peckinpahs Western Pat Garrett and Billy the Kid eine Nebenrolle übernehmen. Die Filmaufnahmen in Mexiko standen unter keinem guten Stern. Anders sah es mit dem Soundtrack aus.
1973 holte Dylan Musiker für die Tonaufnahmen in Hollywood zusammen. Er nennt in einem Interview Roger McGuinn von den Byrds, Rita Coolidge und Booker T. Die Sessions erbrachten den Riesenhit Knockin‘ on Heaven’s Door, aber auch ein Fragment, das die Fans Rock Me Mama betitelten, als sie die Bootleg-Aufnahmen in die Hände bekamen. Dylan hat den Song nie offiziell veröffentlicht.
Refrain
Rock me mama like a wagon wheel
Rock me mama anyway you feel
Hey mama rock me
Rock me mama like the wind and the rain
Rock me mama like a south-bound train
Hey mama rock me
Was hat nun das Wagenrad im Lied zu suchen? Eine hübsche Erklärung wäre, dass damit die alte Wurlitzer-Jukebox gemeint ist. Das Rad an der Frontseite ist unverkennbar. Ziemlich offensichtlich erscheint mir aber, dass Dylan auf eine geläufige Phrase aus dem Blues zurückgegriffen hat, etwa bei Big Bill Broonzy oder Arthur „Big Boy“ Crudup. Es geht dabei NICHT um eine Mutter, die ihr Kind schaukelt.
B.B. King textete beispielsweise 1958 in Rock Me:
Rock me baby, rock me all night long…
Roll me baby, like you roll a wagon wheel…
Eine eindeutig-zweideutige Aufforderung, wie sie so oft im Blues zu finden ist. Die sexuelle Anspielung macht sicher einen Teil der Attraktivität von Rock Me Mama aus. Die Transformation in weißen Country-Swing durch Dylan lässt den Ausdruck von männlichem Begehren aber freundlich-harmlos erscheinen. Möglich ist aber auch, dass er irgendwo eine „weiße“ Version als Folksong aufgeschnappt hat. Wie sich die gleiche Aussage im heutigen Rap anhören würde, mag sich die Leserschaft selbst ausmalen…Der Song würde unter „explicit content“ fallen.
Ketch Secors neue Fassung
Der junge Amerikaner Chris „Critter“ Fuqua entdeckte bei einem Aufenthalt in London die Bootleg – Aufnahme. Er ließ seinen Schulfreund und späteren Band-Kollegen Ketch Secor das Lied hören. 25 Jahre nach Dylans Fragment,also Ende 1998, schrieb Secor einen neuen Text dazu, da Dylan ihn so „gemurmelt“ hätte. Der Refrain blieb unverändert, die Melodie der Strophe weitgehend erhalten. Das funktionierte prima, und Wagon Wheel wurde das Markenzeichen der Old Crow Medicine Show (Titelbild, Foto: Danny Clinch). Diese Old Time Stringband machte zunächst Straßenmusik und sang das Lied jahrelang, ohne dass es im Radio oder sonst wo zu hören gewesen wäre. Auch so verbreitete sich der Song landauf, landab von Mund zu Mund. Erst 2004, nach ihrem kommerziellen Durchbruch, nahm die OCMS ihre Signatur-Nummer auf und verkaufte davon über 1 Mio. Singles.
Bob Dylan, der seit seinem Album Nashville Skyline (1969) kaum etwas in dieser Richtung herausgebracht hatte, wurde unversehens zum Komponisten eines Country-Hits. Über die Rechte hat man offensichtlich Einigkeit erzielt und die Tantiemen geteilt.
2005 spielte die OCMS in England auf dem Cambridge Folk Festival, spätestens seit diesem Auftritt wird das Lied in der britischen Folkszene unterwegs gewesen sein.
Inhalt der Strophen
Auch die Geschichte, die der Text erzählt, macht den Song attraktiv. Ein junger Mann ist unterwegs zu seiner Liebsten und zwar per Anhalter. Die Route wird beschrieben und macht die Verlockung der Straße spürbar.
Es soll ein Neubeginn werden: nach den kalten Wintern im Norden lockt der warme Süden. Wenn man mag, kann man gedanklich bei den Beat-Poeten der Sechziger anknüpfen – unterwegs sein auf der Reise zu sich selbst. Ein bisschen vom verlorenen Sohn wie beim Wild Rover steckt auch drin: das verhängnisvolle Pokerspielen hat er aufgegeben und träumt vom Musizieren in der Old Time Band mit seiner Gitarre spielenden Freundin. Etwas Pathos wie in den letzten Zeilen wird im Country gerne genommen: wenn schon sterben, dann wenigstens in Freiheit.
Headed down south to the land of the pines
And I’m thumbin‘ my way into North Caroline
Starin‘ up the road
And pray to God I see headlights
I made it down the coast in seventeen hours
Pickin‘ me a bouquet of dogwood flowers
And I’m a hopin‘ for Raleigh
I can see my baby tonight
Runnin‘ from the cold up in New England
I was born to be a fiddler in an old-time stringband
My baby plays the guitar
I pick a banjo now
Oh, the North country winters keep a gettin‘ me now
Lost my money playin‘ poker so I had to up and leave
But I ain’t a turnin‘ back
To livin‘ that old life no more
Walkin‘ to the south out of Roanoke
I caught a trucker out of Philly
Had a nice long toke
But he’s a headed west from the Cumberland Gap
To Johnson City, Tennessee
And I gotta get a move on before the sun
I hear my baby callin‘ my name
And I know that she’s the only one
And if I die in Raleigh
At least I will die free
Die Reise-Geschichte drängt die erotischen Färbung des Refrains etwas in den Hintergrund, was Rock Me Mama für den öffentlichen Gebrauch bekömmlicher macht.
Aufnahmen
Noch größer wurde die Nummer in den USA, als sie 2013 von Darius Rucker aufgenommen wurde. Er schaffte einen Crossover-Hit mit Platz 15 in den Billboard-Charts. Der eingängige Refrain und die Spielbarkeit in großen und kleinen Besetzungen hatten großen Anteil am weiteren Erfolg. Wie die vielen Cover zeigen, funktioniert der einfach strukturierte Song in verschiedenster Instrumentierung und lässt sich prima mehrstimmig gestalten. Jeder, der vier Akkorde schafft, kann mitmachen. Das Lied lässt sich leicht zum Swingen bringen; bei nur drei Strophen ist reichlich Platz für Soli. Es ist so, als ob man einen guten Eintopf kocht: wenn die Grundlage stimmt, passen eine Menge unterschiedliche Zutaten hinein.
Mumford&Sons verschafften Wagon Wheel in Europa weitere Hörer. Epidemisch breitete sich das Lied allerdings in Irland aus, nachdem es Countrysänger Nathan Parker 2013 in die dortigen Charts gebracht hatte, wo es sich 52 Wochen hielt. Es gibt wohl kaum einen irischen Musik-Pub, indem noch nicht „Heeey mama rock me“ erschollen wäre. Dies soll einzelne Wirte veranlasst haben, ihren Laden zur „Wagon Wheel–freien Zone“ zu erklären.
Obwohl Wagon Wheel-infizierte irische Bands das Lied auch auf deutschen Bühnen sangen, blieb der Effekt wegen der fehlenden Wiedererkennung aus. Das deutsche Folk-Publikum steht dem Country ohnehin reservierter gegenüber als dies in Irland der Fall ist. Die Übersetzungen ins Deutsche mit „Hey Momma, wiege mich“ oder „Also rock mich Mami, wie ein Wagenrad“ ist auch nicht wirklich singbar.
Wegen der historisch bedingten Nähe von amerikanischer und irischer Spielweise wurde das Lied bestens integriert. Ultimative Aneignung und Liebesbeweis ist wohl die Übersetzung ins Gälische. Jetzt ist der Song mit dem reisenden Anhalter wohl endgültig in einem guten neuen Zuhause angekommen.
Luascadh, luascadh lena buachaillí
Pógadh, pógadh lena cailíní
Hey-ey-ey tóg amach mé
Luascadh, luascadh lena buachaillí
Pógadh, pógadh lena cailíní Hey-ey-ey tóg amach mé…